Dienstag, 14. Mai 2013

Der Archivar



Stellt euch vor jemand bittet euch um Folgendes: „Erzähl mir bitte eine Geschichte die jeder kennt. Ob klein, ob groß, ob alt, ob jung. Absolut jeder.“
   Nun? Welche Geschichte würdet ihr ihm erzählen? Ich wüsste welche ich erzählen würde: Unsere Geschichte natürlich. Die Geschichte der Oblivi. Diese Geschichte kennt schließlich jedes Kind. Ich würde so beginnen:


„Zuerst waren da die Adversi. Sie waren die höchste Rasse im bekannten Universum und besiedelten den Planeten Inernum. Schon damals waren sie edel und weise. In ihrer Weisheit erschufen sie eine neue Rasse und nannten sie Servil. Angeblich erschufen die Adversi sie nach ihrem Abbild. Aber das ist schwer zu glauben. Zwar sind beide mit ihren über drei Metern etwa gleich groß, doch zeichneten sich die Servil durch ihren feineren Körperbau aus. Wo die Adversi fast zwei Meter breit und muskulös waren, da waren die Servil schlank und von zierlicher Gestalt. Selbst in der Form der Augen unterschieden sie sich. Die Adversi sahen immer nach vorne, doch die Servil? Ihr Blick ruhte immer auf ihrer Seite. Doch diese Unterschiede waren den Adversi egal. In ihrer großen Güte schenkten die Adversi den Servil die Freiheit und gaben ihnen sogar ihren eigenen Planeten. Aber die Servil weigerten sich. Sie warfen sich in den Staub und flehten die Adversi an ihnen dienen zu dürfen. Zuerst waren die Adversi überrascht, doch erkannten sie schnell die aufrichtige Ehrlichkeit in den Augen der Servil. So kam es, dass sie ihnen gestatteten sich von ihnen bedienen zu lassen.

Die Jahrhunderte vergingen und die Adversi erschufen sich erneut einen Planeten und nannten ihn Phila. Er sollte ihre neue Heimat werden. Phila war nach ihren Wünschen geformt. Bedeckt mit rostigen Sand und in der Luft voller Stürme und heißem Regen. Es war ihr Paradies. Doch verspürten sie dieses Verlangen. Das Verlangen diese wundervolle Welt mit jemanden zu teilen zu dürfen. Also begannen sie erneut ihrer Rolle als gottgleiche Wesen zu erfüllen und erschufen wieder eine Rasse nach ihrem Ebenbild … Aber sie scheiterten. Es war unglaublich. Die Adversi scheiterten. Die neue Rasse war klein und schwach. Sie waren vielleicht gerade einmal halb so groß wie sie und so schmächtig wie die Servil. Das Schlimmste aber war: Sie waren dumm. Die neue Rasse konnte nicht einmal die Sprache der Adversi sprechen. Es war eine Tragödie. Die Servil rieten ihnen diese arme Rasse zu erlösen und von vorne zu beginnen, doch die Adversi weigerten sich. Sie wollten dieser armen neuen Rasse einen Sinn im Leben schenken und so erlaubten sie ihr, ihnen zu dienen. Die Servil sollten sie führen, aber es war diese neue Rasse, die ihre wahre Aufgabe für sich fand: Das Graben. Sie gruben und brachten Schätze für die Adversi ans Tageslicht. Vor Dank gerührt schenkten die Adversi ihnen sogar eine eigene Stadt mit den Namen Famula. Eine prächtigere Stadt hatte diese Rasse noch nie gesehen. Sie bestand aus Stein, Glas und Stahl. Nicht so wie die Bauten der Adversi, die fast vollständig aus Glas oder Edelmetallen waren. Sie war wunderschön. Aber dies war noch nicht alles, was die Adversi dieser neuen Rasse schenkte. Sie schenkten ihnen ihre eigene Sprache und gaben ihnen sogar ihren eigenen Namen. Sie nannte sie Oblivi. Ja, dies ist unsere Geschichte. Vor knapp zwei Jahrhunderten erschufen sie uns und schenkten uns unseren Namen.“

Doch was wäre, wenn dieser Jemand sagen würde: „Bitte erzähl mir doch keine erfundene Geschichte!“
   Ihr wäret verwirrt, oder? „Natürlich ist das eine wahre Geschichte“, würdet ihr protestieren. Nicht wahr?
   Was wäre aber wenn er dann sagen würde: „Ich erzähle euch nun eine wirklich wahre Geschichte. Es ist die Geschichte einer Rasse die sich Mensch nennt:

Die Geschichte beginnt vor hunderttausenden von Jahren auf einem Planeten mit dem Namen Erde. Diese Erde war ein Reich voller Meere und Wälder, ganz anders als Phila. Doch diese Erde war perfekt für die Menschen und so entwickelten sie sich schnell weiter. Sie bezwangen jede andere Kreatur auf diesem artenreichen Planeten und begannen schnell über alles zu herrschen. Schnell fassten sie einen neuen Feind ins Auge: Sich selbst. Sie bekriegten einander und stritten miteinander über die Herrschaft. Ihr mögt nun denken: Was für ein entsetzliches Rasse. Doch hatten sie auch eine gänzlich andere Seite. Sie lachten miteinander und liebten einander. Mitfühlend kümmerten sie sich um ihre Liebsten und sogar um Fremde. Wahrlich eine Rasse voller Gegensätze. Mit der Zeit nahmen die Kriege ab und Frieden breitete sich auf der Erde aus. So kamen sie zusammen und bauten sich Städte aus Stein, Glas und Beton. Natürlich hörten die Kämpfe nicht vollständig auf. Wie sollte eine Rasse auch schon gegen ihre eigene Natur ankommen? Aber sie bemühten sich. Doch waren diese Bemühungen leider vollkommen umsonst als sie kamen. Denn sie waren nicht an Frieden interessiert. Sie wollten nur Blutvergießen und … Schätze. Wie die Heuschrecken kamen sie über die Erde. Zuerst dörrten sie die Meere aus, denn sie verabscheuten das reine Wasser. Dann verpesteten sie die Luft, denn sie war ihnen zu rein und dann? Dann schickten sie ihre dürren Sklaven vor und benutzten sie als Kugelfang. Ihre Leichen stapelten sich zu hunderttausenden an den Verteidigungsringen der Menschen. Aber dann, als die Menschen müde vom Kämpfen waren, dann kamen sie und zermalmten die Überreste ihrer Sklaven unter ihrem enormen Gewicht. Sie zertrümmerten die Wälle der Menschen und töteten jeden der ihnen im Weg war, jeden der es gewagt hätte Wiederstand zu leisten. Dies erkannten auch die armen Menschen und so warfen die ersten ihre Waffen weg und bettelten um Gnade. So erging es Stadt für Stadt, Land für Land, bis … bis sie gesiegt hatten und die letzten Menschen ihnen gehörten.

Doch damit endet die Geschichte nicht. Denn sie wollten mehr. Sie wollten etwas, was ihre alte Welt ihnen inzwischen verweigerte: Schätze. Schätze aus den Tiefen der armen Erde. Also schmissen sie die Menschen in die Abgründe und ließen sie graben. Doch die Menschen wollten nicht so leben, denn sie erinnerten sich. Sie erinnerten sich an ihre Freiheit. Also schmiedeten die Invasoren einen Plan. Einen Plan den sie bereits vor hunderten von Jahren bei einer anderen Rasse angewandt hatten. Sie erzählten den Menschen eine Geschichte. Es war eine Geschichte über die Menschen. Doch die Menschen erkannten die Lügen in dieser Geschichte und so brüllten sie: Lügner! Doch jeder der aufschrie wurde als Belohnung für seine Scharfsinnigkeit … in Stücke gerissen. So kam es, dass immer weniger brüllten, bis niemand mehr was sagte … bis sie es glaubten. Aber da waren noch andere unter den Menschen. Sie erkannten den perfiden Plan der Invasoren und so gaben sie ihren Kindern ein Geschenk. Ein Geschenk was sie sich nie gewünscht hatten, aber doch bekommen haben. Denn dieses Geschenk war wichtig. Was dieses Geschenk war, fragt ihr euch? Die wahre Geschichte. Sie brannten ihren eigenen Kindern diese Geschichte in die Tiefen ihres Blutes ein. Damit sie diese Geschichte ja nie vergessen und als Archivare der wahren Geschichte leben könnten. Und so lebten ihre Kinder unter den Kindern der Anderen, während um ihnen herum alle die wahre Geschichte vergaßen. Doch niemals diese Kinder, sie würden niemals vergessen.“

Tja, nun frage ich euch: Wie würdet ihr auf diese Geschichte reagieren? Verwirrt? Ja, vielleicht. Ungläubig? Vermutlich. Erbost? Oh, ganz sicher. Doch was wäre wenn ich euch sage, dass diese Geschichte wirklich war wäre?
   Wie ich darauf käme?
   Oh, das ist einfach. Denn ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles!
   Mein Name? Da fragt ihr aber spät.
   Es ist der Name, den auch mein Vater trug: Archivar!

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