Freitag, 19. Juli 2013

Regenbogen

Seht sie euch an. Diese Menschen, wie sie da im Licht herumwandern, nichtsahnend. Sorgenfrei wandern sie herum, getrieben von ihrem belanglosen kurzen Leben. Doch es dauert nichtmehr lange, dann versteckt sich die Sonne wieder vor der Finsternis und dann … dann komme ich wieder in eure Welt … Ja, erzittert vor diesem Gedanken.

   Langsam wage ich mich hervor. Raus aus der finsteren Gasse in Richtung der Straße. Immer darauf bedacht, dass mir das Licht der Laternen nicht zu nahe kommt. Wieso haben die Menschen nur die Lampe erfunden? Auch wenn sie nicht annähernd so stark wie die Sonne ist, so reicht ihr Licht dennoch aus um meiner Gestalt zu schaden. Am Rand der Gasse angekommen stehe ich nun da und warte. Ich warte auf das Verschwinden dieser elendigen Sonne.
   „… ja ist das zu fassen? Ich konnte es selber kaum glauben, als sie es mir gesagt hat“, erklingt eine viel zu hohe Mädchenstimme. „Natürlich sag ich die Wahrheit. Glaubst du etwa ich würde dich anlügen. Du bist …“
   Was ist das denn jetzt?
   Vorsichtig linse ich um die Ecke und beobachte wie diese kleine Göre da an der Hauswand lehnt und in ihr Telefon quäkt. Während sie das macht spielt sie mit ihren offensichtlich gefärbten roten Haaren herum.
   Halt dein Maul und verschwinde!
   Doch sie hört nicht. Sie quatscht weiter in ihr Telefon.
   Soll ich mir das wirklich noch weiter anhören? Nein! Ihr Körper liegt im Schatten, perfekt. Ich muss nur um diese Ecke herumgreifen und zupacken. Ganz einfach. Es würde nicht einmal wer bemerken. Es wäre sofort Schluss … also warum tue ich es nicht? Meine Hand ist wie erstarrt. Wegen ihnen? Sie beherrschen mich nicht! Niemand herrscht über mich. Ich bin ein Schatten, verdammt nochmal! Nichts kann mich kontrollieren. Ich wurde damals entfesselt und werde nie wieder ein Leben als Marionette führen! Also warum kann ich es nicht? Der Schmerz, ich erinnere mich.

Ich war frei. Niemand konnte mich aufhalten. Jeden der es versuchte habe ich in Stücke gerissen,  mühelos. Die Schläger, die Polizisten … selbst die Magier, die diese Feiglinge gerufen haben. Doch dann kahmen sie. Sie, diese gerüsteten Krieger. Umhüllt von derselben Finsternis wie ich, aber doch anders. Sie sprachen von Sünde, pah! War es nicht selbst Sünde, das was sie taten? Sie fesselten mich mit ihren seltsamen Worten und schleiften mich mit.

„Entscheide: Lebe und halte dich an die Gesetze der Lebenden oder vergehe, wie du es schon längst hättest machen sollen“, sprach diese in Schwarz gehüllte Frau.
   Ich spie ihr verächtlich meine Finsternis ins Gesicht, doch sie bemerkte es kaum. Sonst schrien die Menschen panisch, aber sie nicht. Nein, sie verstand darin nur meine Antwort.
   Eine kurze Handbewegung von ihre reichte und schon öffnete sich die Dachluke. Ich blickte zum ersten Mal in das Antlitz der Sonne. Es war entsetzlich. Mein Körper begann auseinanderzureißen, als wollte jede Faser von mir weg aus dem Licht. Jede in eine andere Richtung. Diese Schmerzen … stumm schrie ich in das Licht. Im Geiste bettelte und winselte ich um Gnade, wie ich ein verdammter Hund, bis die Sonne auf einmal verschwand. Sie hatten die Luke wieder geschlossen.
   Verächtlich beugte sie sich wieder über mich und betrachtete genau mein Gesicht, meine Augen und dann? Dann öffneten sie wieder diese verdammte Luke.
   Ich weiß nicht wie lange das so ging. Sie schlossen die Luke, sie starrte mir in die Augen und sie öffneten sie wieder. Bis … bis sie das in meinen Augen sah, was sie sehen wollte.
   Erneut beugte sie sich über mich und sagte: „Du wirst uns gehorchen. Niemals wirst du Hand an ein unschuldiges Leben legen und wenn wir dich rufen, dann wirst du kommen. Wir beobachten dich genau.“
   Und damit lösten sie meine Fesseln und schmissen mich in diese Gasse …

Zitternd betrachte ich meine Hände … nein, meine in Finsternis gehüllten Klauen. Ich kann es nicht. Ich bin nichtmehr frei. Dieser verdammte schwarze Orden. Sie haben mich dazu verdammt hier in der Finsternis zu hocken und zu beobachten. Ich muss zusehen wie sie glücklich an mir vorbei ziehen oder dümmlich in die Gegend starren.
   Ja genau, er ist wohl der beste Beweis für die Unwertheit der Menschen. Seht ihn euch an. Wie er da sitzt auf der anderen Straßenseite. Schon seit Stunden muss ich mitansehen wie er da auf der Bank sitzt und ins Leere starrt. Seine Kleidung sieht teuer aus, aber er selbst wirkt wie ein Obdachloser. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine schwarzen Haare zerzaust und er hat sich wohl seit Tagen nichtmehr rasiert, widerlich.
   Am liebsten würde ich kurz zu ihm hinüberhuschen und seine jämmerliche Existenz beenden. Aber da ist wieder dieses Zittern, verdammt!

Die Minuten vergehen und er rührt sich keinen Millimeter. Gerade als ich mich frage ob er vielleicht mit offenen Augen eingeschlafen ist, ruckt seine Hand und er greift sich in die Tasche.
   Neugierig recke ich mich vor um zu sehen was er da in der Hand hält. Ein Zettel? Ja, es ist ein Zettel.
   Voller Wut krallt er seine Hände darum und schafft es nur langsam ihn zu entfalten.
   Was da wohl drin steht? Vielleicht ist es ein Kündigungsschreiben oder eine Scheidungserklärung? Darauf reagieren die Menschen immer so,  erbärmlich. „Darum sitzt du also hier?“, frage ich ihn stumm, während er sich den Zettel durchliest. Immer wieder und wieder.
   Aber anstatt zu antworten, fängt er an zu … weinen? Ja, er weint. Ein erwachsener Mann sitzt dort auf einer Bank am Rand einer Hauptstraße und flennt sich die Seele aus dem Leib. Die wenigen Menschen, die noch um diese Uhrzeit unterwegs sind, scheint es nicht zu kümmern. Ohne zu reagieren laufen sie an ihm vorbei. Wäre ich nicht davon befreit, würde ich wohl Mitleid für dieses erbärmliche Ding zeigen. Aber so? Ich empfinde nur Neugierde. Ich will wissen was in diesem Zettel steht. Doch ich kann nicht zu ihm rüber. Noch immer krallt sich diese elende Sonne über Wasser und schickt ihre hässlichen Strahlen mitten über die Straße. Also muss ich weiter hier bleiben und warten.
   Ich versuche mich abzulenken. Doch trotzdem fällt mein Blick immer wieder auf diesen Mann. Warum? Was fasziniert mich so an ihm? Irgendetwas ist anders. Ich beobachte ihn genauer. Es ist ja nicht so als hätte ich noch nie jemanden weinen gesehen. Früher als ich noch an einen Körper gefesselt war, habe ich sogar selber oft genug geflennt. Also was ist es?

Die Minuten verrinnen und er weint immer mehr und mehr. Ja, jetzt erkenne ich es. Es ist wie er weint. Ich habe noch nie ein Wesen so frei seine Trauer ausdrücken gesehen. Sie fehlt, diese Barriere fehlt. Die Barriere, die wir aufbauen wenn wir unter Fremden oder Freunden sind und versuchen unsere Trauer zu unterdrücken. Die Barriere, die selbst dann auftaucht wenn wir alleine sind. Sie verhindert, dass wir der Verzweiflung verfallen. Aber er? Er hat sich der Verzweiflung bereits ausgeliefert. Normalerweise versucht ein Mensch seine Tränen wegzuwischen um damit die Trauer zu verdrängen. Aber nicht bei ihm. Sie fallen herab wie bei einem Wassersturz. Für wahr, dieses Wort passt, denn wie bei einem Wassersturz bildet sich zu seinen Füßen ein kleiner See und sammelt die Tränen auf.
   Er zuckt zusammen. Verwundert betrachte ich sein Gesicht und lese darin Verwunderung, Neugierde und Erstaunen? Was sieht er, das ich nicht sehe? Ich folge seinem Blick, wieder zurück auf den Boden und da sehe ich es auch. Er ist nur winzig, aber ja, es ist einer. Dort vor seinen Füßen, schwebt ein winziger Regenbogen. Ich betrachte ihn genauer. Er muss aus dem feinen Nebel, der sich über den kleinen See gebildet hat, geboren worden sein. Ich wusste nicht einmal, dass so etwas möglich ist. Aber da ist er und genau wie ich, beobachtet ihn auch der Mann.
   Erneut regt er sich. Diesmal jedoch scheint er sich zu entspannen. Ich blicke auf und beobachte wie er gerade in den Himmel sieht, dann aufsteht und einfach weggeht. Nur kurz erhasche ich einen Blick auf sein Gesicht und erkenne dort einen Ausdruck, den ich bisher noch nie im Leben gesehen habe, aber jederzeit sofort erkennen würde: Erlösung.

Minuten vergehen und ich schaffe es nicht meinen Blick von der Ecke, wo er herum verschwunden ist, zu lösen. Ich zucke zusammen. Der Zettel! Er hatte ihn nicht dabei. Schnell suche ich die Bank ab und finde ihn. Jetzt muss nur noch die Sonne untergehen. Ich blicke in ihre Richtung und … weg. Sie ist bereits untergegangen. Der Moment, auf den ich seit Stunden warte, nein, sehne ist vorbei gegangen und ich habe es nicht gemerkt? Egal! Schnell husche ich auf die Straße und weiche den Lichtkegeln der Straßenlaternen aus. Neugierig hebe ich den Zettel auf, öffne ihn und stocke. In bemüht sorgsamer Kinderschrift steht dort:

Papa,

Mama hat gesagt, ich könnte nach der Operation erst einmal nicht sprechen, also hab ich mir gedacht, ich schreibe dir. Ich weiß, ich soll nicht lauschen, aber ich habe gehört wie du und Mama euch gestern Abend unterhalten habt. Du hast ganz laut gefragt, warum mir das passiert ist und warum es mir nicht einfach besser gehen könnte, aber Mama konnte dir das nicht beantworten. Ich fand das komisch. Du hattest es mir doch selbst gesagt? Vorletzte Woche, als es so heftig gewittert hat. Zuhause war das nie schlimm, aber hier im Zimmer war es besonders laut und ich hatte Angst. Ich habe dich gefragt, warum es denn überhaupt gewittern und regnen muss. Du hast gesagt, ich solle warten und das tat ich dann auch. Als es endlich aufgehört hatte, hast du mich zum Fenster getragen und es mir gezeigt. Am Himmel war ein wundervoller Regenbogen und du hast gesagt: „Ohne den Regen, würde es niemals so einen schönen Regenbogen geben.“ Verstehst du es jetzt Papa? Wie sollte es mir den besser gehen, wenn es mir jetzt nicht schlecht geht?

Das wollte ich dir nur sagen. Bis morgen, ich hoffe du kannst früher von der Arbeit weg.

Robi


Ein Schluchzen reißt mich aus meiner Lethargie. Ist der Mann wiedergekommen? Schnell sehe ich mich um. Nichts. Gerade als ich wieder auf den Zettel sehen will, höre ich es erneut. Ganz nah. Ich sehe mich wieder um, aber da ist nichts. Erst als ich auf den Boden sehe und dort beobachte wie sich erneut ein kleiner See bildet, begreife ich.

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