Mittwoch, 6. März 2013

DK 16 Gegenschlag


 „Toris!“
   Verdammt wo bist du? Im Lazarett der Bastion ist er nicht. Er muss irgendwo in den Gassen sein. Vielleicht ist er verletzt oder verschüttet? So viele Gebäude wurden getroffen und sind eingestürzt. Wieso sonst war er nicht nach dem Erklingen des Horns in der Bastion? Das war doch das Signal. Das Signal, dass die Drachen geflohen sind. Diese Feiglinge haben Panik bekommen nach dem Tod ihres Anführers.

   „Toris? Bist du hier?“, ruft Reth in eine weitere Gasse.
   Nein, überall nur Leichen, aber kein Toris. Wir haben sie gejagt und einen nach den anderen vom Himmel geholt. Der Regen hat die Magier rasend gemacht.
   „Toris? Hörst du mich?“
   Hier ist auch keiner. Ich muss zum südlichen Posten. Vielleicht hat es ihn dahin verschlagen?
   „… Reth?“
   Was wer war das? Toris? Bist du es? Ja, Toris!
   „Endlich hab ich sie gefunden …“
   Er starrt den durchgeschwitzten Soldaten vor ihm an. Nein, das ist nicht Toris. Toris ist größer und älter … und er ist blond. Wie konnte ich dieses Kind mit ihm verwechseln? Augenblick, ich kenne ihn irgendwoher. Ja genau, er war einer der neuen Soldaten, der mir zugewiesen wurde. Ein Freiwilliger. Wie war sein Name nochmal? Irgendetwas mit A. Asmoth? Arthur? Ich komm nicht drauf. Moment, was hat er gerade gesagt?
   „… oberste Priorität, Sir.“
   „Bitte? Was haben sie gerade gesagt?“
   „Sir? Der Militärrat hat zu einer Versammlung gerufen, alle Hauptmänner haben sich zu versammeln. Dies hat oberste Priorität.“
   „Wieso sagst du mir das? Gib gefälligst Hauptmann Luken Bescheid! Ich hab wichtigeres zu tun“, schnauzt er den Soldaten an.
   „S, Sir?“
   Luken … ach er ist ja tot. In meinen Armen gestorben ... Genau, sie haben mich zu seinem Nachfolger ernannt. Scheiße, ich bin jetzt Hauptmann? Aber ich muss doch nach Toris suchen …
   Verwirrt schüttelt Reth den Kopf. „Entschuldige, sag ihnen Bescheid, ich habe wichtigeres zu tun.“
   „Aber Sir. Das wäre Befehlsverweigerung!“
   Verdammt. Aber vielleicht ist er inzwischen wieder da. „Nun gut, geh vor.“
   Erleichterung breitet sich in dem Gesicht des Soldaten aus. „Hier entlang Sir.“

Ein Großteil der Bastion ist zerstört. Überall ist versengter Stein und die Luft ist immer noch rauchgeschwängert. Dieses alte Gebäude, welches vor mehreren hundert Jahren als Stützpunkt der Wächter gebaut wurde. Früher waren die Wächter nur eine Stadtwache, aber im Laufe der Zeit haben sie sich zu einer schlagkräftigen Armee entwickelt. Inzwischen besitzen sie in fast jeder Stadt, die im Einflussbereich von Steinhafen steht, einen Stützpunkt. Dieser Entwicklung musste die Bastion auch Rechnung tragen. Der kleine Turm von damals wurde massiv ausgebaut und inzwischen ist die Bastion ein Gebilde aus vier Türmen, die einen noch größeren umringen. Dazu kommen noch mehrere kleinere Kasernen und Verwaltungsstellen, die sich zwischen den Türmen und der umliegenden dreifachen Mauer verteilen. In der Ferne hört man die Verwundeten aus den Lazaretten, die überall in der Bastion notdürftig aufgebaut wurden.
   Ist Toris unter ihnen? Von ihm selbst unbemerkt, wandert er in Richtung der Lazarette.
   „Sir? Die Zusammenkunft ist im Hauptturm. Nicht in dieser Richtung.“
   „Wie? Oh ja …“ Reth stoppt und läuft wieder dem Soldaten hinterher.
   Vor dem hohen Toren stehen vier Wachen und beobachten die beiden Neuankömmlinge mit blutunterlaufenden Augen. Gerade als der Soldat sie beide ankündigen wollte, werden sie einfach durchgewunken.
   Die haben auch keine Lust mehr. Wer kann es ihnen verdenken.

Als sie das erste Geschoss erreicht haben, bleibt der Soldat auf einmal vor einer großen Tür stehen.
   „Was ist? Findet die Versammlung nicht oben statt?“
   „Habt ihr es nicht von außen gesehen? Die oberen Etagen wurden Großteils zerstört. Der Kampf gegen den Riesen war schrecklich …“, er stockt. „Kommen sie, gehen sie bitte hinein. Ich werde wieder runter zu unseren Männern gehen.“
   Der Riese? Aber dieser Mann hat doch über der Nordstadt mit ihm gekämpft, nicht hier im Westen?
   „Gut.“ Reth lehnt sich mit Kraft gegen die Tür und ist im ersten Moment überrascht wie leicht sie aufgeht. Drinnen bemerkt er, die Versammlung hat bereits angefangen. Schnell stellt er sich zu den umstehenden Hauptmännern, die sich wiederum um den Tisch der Befehlshaber versammelt haben.

„Wo sind diese feigen Ratten hin?“, brüllt Großmarshall Host in die Runde. Der Marshall der Infanterie zuckt nur teilnahmslos mit seinen Schultern. Marshall Sünders, der Kommandeur der Kavallerie, enthält sich wie so oft.
   Kein Wunder. Ein Großteil seiner Männer wurde der Infanterie zugewiesen. Im Grunde ist er nur pro forma hier.
   Die Antwort kommt von Großadmiral Saiten. Leise flüstert er: „Einige meine Männer haben gesehen, wie sich welche von ihnen vorgestern Morgen auf den Weg gemacht haben. Sie haben behauptet sie hätten einen direkten Befehl von euch für eine Infiltration bekommen.“
   „Schwachsinn! Ich habe den Drachenjägern keine Befehle gegeben! Diese Bastarde! Dieses feige Dreckspack“, wütend stapft er auch und ab. „Wo zum Teufel ist Kubrat? Er hat sie uns vermittelt! WO ist er?“
   Sein Sekretär zuckt zusammen. „Wir konnten ihn nicht erreichen. Seine Diener behaupten er wäre mit Aufräumarbeiten in seinem Anwesen beschäftigt.“
   „Was? Als ob sich dieser Lackaffe die Finger dreckig machen würde.“
   „Vermutlich ist er zusammen mit den Drachenjägern abgehauen“, wirft Saiten ein.
   „Ja ... wir sollten sie jagen und hängen für ihre Taten, aber dafür fehlt die Zeit. Gott sei Dank hatten wir die Magier … Hohemagier Aros, wie steht es um den Erzmagier?“
   Aros, seit dem Massaker auf See zum ersten Mal wieder nüchtern, schüttelt den Kopf. „Er ist immer noch bewusstlos, der Kampf gegen den Riesen hat ihn ausgezerrt. Zum Glück kam der Regen. Ansonsten hätte er den Kampf wohl nicht lebendig überstanden. So konnte er ihn lange genug aufhalten.“
   Der Erzmagier hat gegen ihn gekämpft? Deswegen hat dieses Monster erst so spät in den Kampf eingegriffen.

Gerade als die Kommandeure sich über das zukünftige Vorgehen besprechen wollen, wird die Tür lauthals aufgestoßen.
   Das ist er!
   Ein Raunen geht durch die Menge. Schnell weichen die Hauptmänner den nach vorne stürmenden Mann aus. Abrupt bleibt er vor dem Versammlungstisch des Rates stehen und sieht Aros an. Zum ersten Mal erhält Reth die Möglichkeit diesen seltsamen Mann genauer zu betrachten.
   Vermutlich wäre er mir früher kaum aufgefallen. Um die dreißig, schwarzes kurzes Haar und durchschnittlich gebaut. Aber jetzt? Er wirkt bestialisch. Seine Augen sind pechschwarz, genau wie seine Adern. Schattenmagie, sie muss dauerhaft aktiv sein. Normalerweise sammelt ein Magier doch nur kurzzeitig seine Macht, aber bei ihm? Er hält sie dauerhaft aufrecht. Gestern dachte ich noch er würde einen Mantel tragen, aber ich hab mich getäuscht. Er trägt nur eine Tunika und eine lange Hose. Was ihn umhüllt sind Schatten. Sie wabern hin und her. Manchmal zucken sie kurz in eine Richtung, wenn sich etwas in ihrer Umgebung bewegt. Woher hat er nur diese Macht? Und was sind das für seltsame leuchtende Runen, die überall auf seinen Körper sind? Selbst Hohemagier Aros starrt ihn an.
   „Samarus Dev, ich hätte nicht erwartet euch noch einmal zu sehen. Wie schafft ihr es …“, Aros hält inne und betrachtet die seltsamen Runen genauer. Sie wabern in einem tiefen Blau. Als er es begreift weiten sich seine Augen. „Portale! Ihr habt winzige Portale auf eurer Haut geschaffen! Sie versorgen euch also mit Wasser. Die Quelle dafür musste aber quasi unerschöpflich sein. In welche Sphäre führen sie?“
   „ In dieselbe aus der auch der Riss stammt. Poseidons Reich.“
   „In die Sphäre eines lebenden Gottes? Unmöglich, kein Gott würde das erlauben. Erst Recht Poseidon. Er verabscheut uns Magier.“
   „Tja, Poseidons Abscheu gegen die Drachen ist größer als gegen uns Magier. Von wegen Feuer und Wasser. Es war nicht schwer an seine Erlaubnis zu kommen.“
   Ungläubig sieht Aros ihn an.
   „Der Erzmagier ist bewusstlos, ist das korrekt?“, wechselt Samarus das Thema.
   Aros nickt. „Er hat sich im Kampf vollkommen verausgabt.“
   „Was ist mit Hyrasis?“, fragt er direkt weiter.
   „Er ist verschollen. Vor zwei Nächten wurde sein Haus getroffen und vollständig zerstört. Wir konnten ihn in den Trümmern nicht finden. Aber ich glaube nicht, er könnte das überlebt haben.“
   „Ich verstehe.“
   Währenddessen scheint Host den Namen des Mannes wiederzuerkennen. „Dev? Einer der Fahnenflüchtigen? Einer der Feiglinge, die sich lieber versteckten als zu kämpfen?“
   Der in Schatten gehüllte Mann sieht ihn nur regungslos an. „Manchmal muss man sich erst mal stärken, bevor man kämpfen kann“, gibt er monoton als Antwort.
   „Und wo ist eure Frau? Catherine hieß sie doch, oder? Wird sie uns auch noch mit ihrer Anwesenheit beglücken?“
   Hat er gerade gezuckt?
   „Nicht meine Entscheidung. Geben sie mir den aktuellen Stand. Was ist bisher passiert?“
   „Die Drachen haben uns eiskalt erwischt. Bei unserem ersten Angriff haben sie unsere Flotte fast vollständig aufgerieben. Sie haben das Meer solange erhitzt, bis es verdampft ist. Unsere Männer sind einfach verbrannt …“, antwortet ihm Marshall Sünders.
   „Das war zu erwarten. Weiter.“
   „Erwarten?“ Großadmiral Saiten scheint seine Stimme wiedergefunden zu haben. „Niemand hat das erwartet! Dieser heimtückischer Plan hat tausende meiner Männer das Leben gekostet!“
   „Der Angriff auf die Hauptressource der Magier war zu erwarten, nachdem sie einen Großteil unsere Nahrungsversorgung mit ihrem ersten Angriff zerstört hatten oder warum glaubt ihr haben sie sich so weit in unser Hinterland gewagt? Vor der Infanterie hat kein Drache Angst. Was ist danach passiert?“
   Er ist eiskalt.
   Sünders fährt nach einen Moment fort: „Danach haben sie uns konstant jede Nacht angegriffen. Sie haben sich anfangs mit Bombardierungen zufrieden gegeben, aber gestern Nacht wollten sie es wohl zu Ende bringen.“
   „Verstehe. Ich gebe euch Recht. Dieser Angriff sollte euch vernichten. Ansonsten hätte Saros den Hort nicht verlassen.“
   „Saros?“
   „Der rotbraune Gigant. Er war die rechte Hand von Marek …“
   „Marek?“
   Samarus schnaubt verächtlich. „Ich wisst wirklich nichts über euren Feind oder? Marek ist der Anführer der Vulkangeborenen. Das ist die derzeit herrschende Gruppierung unter den Drachen. Er befehligt ihre Truppen“, für einen Moment hält er inne, ehe er fortfährt: „Da das nun geklärt ist, wie viele kampffähige Soldaten sind noch am Leben?”
   Großmarshall Host gefällt es offensichtlich nicht, wie er von diesem Zivilisten behandelt wird, trotzdem antwortet er ihm: „Wir haben auf dem Meer fast zehntausend Seesoldaten und dreißigtausend Infanteristen verloren. In den letzten Nächten sind weitere dreizehntausend gefallen. Wir haben noch nicht alle Berichte von dieser Nacht, aber vermutlich sind über zwanzigtausend im Kampf gefallen. Insgesamt haben wir derzeit also noch etwa zweiundzwanzigtausend kampffähige Soldaten.“
   „Wie sieht es bei den Magiern aus?“
   Aros Miene verfinstert sich. „Wir sind alle massiv geschwächt von dem letzten Kampf. Der Erzmagier ist noch immer in einem kritischen Zustand und wir haben viele gute Männer und Frauen verloren. Derzeit sind wir gerade einmal dreihundert.“
   „Gut.“
   Gut? Hat er gerade Gut gesagt?
   Wütendes Gemurmel breitet sich aus.
   „Das reicht für einen Gegenschlag“, gibt Samarus gelassen bekannt.
   „Ein Gegenschlag? Sind sie verrückt? Unsere Männer sind fertig!“
   „Irrelevant. Ihr habt es selbst gesehen. Einige Drachen haben den Angriff überlebt. Sie fliegen gerade direkt zurück zum Hort um von ihre Niederlage zu berichten. Ein Drache schafft die Strecke in knapp einem halben Tag. Das bedeutet, in etwa zwei Glockenschlägen wird Marek von der kläglichen Niederlage seiner rechten Hand erfahren. Er wird etwa zehn weitere Schläge benötigen um den gesamten Hort angriffsbereit zu machen und dann wird sich eine voll kampfbereite Invasionsflotte aus tausenden von Drachen aufmachen in Richtung Steinhafen. Wollt ihr solange warten?“
   Ungläubiges Schweigen breitet sich aus. Großmarshall Host ist der Erste der sich zu Wort meldet: „Selbst wenn wir jetzt sofort losmarschieren würden, dann würde uns seine Armee noch vor dem Erreichen der anderen Küste angreifen. Wir wären auf offenen Feld mitten im Matsch. Das wäre unser Todesurteil. Hier dagegen haben wir zumindest noch die Mauern.“
   „Da habt ihr Recht. Ein Marsch ist indiskutabel. Nein, ich plane einen direkten Sprung zu den Zwillingsdrachen. Sie sind weit genug entfernt vom Hort, damit wir in Ruhe alle Soldaten auf die andere Seite bekommen können. Die Drachen werden keine Spähposten aufgestellt haben. Ihr Feind ist ja auf der anderen Seite des Meeres. Von Dort ist es keinen Glockenschlag bis wir am Hort sind. Wenn wir in drei Schlägen aufbrechen, werden wir sie also mitten in den Vorbereitungen treffen“, erläutert Samarus.
   „Netter Plan, aber habt ihr da nicht etwas vergessen?“, unterbricht ihn Aros.
   „Das wäre?“
   „Wie wollt ihr ein Portal aufbauen ohne Gegenseite?“
   „Ich werde die Gegenseite sein. Ein Schattenschritt auf die andere Seite und wir können das Portal aufbauen.“
   Aros Augen weiten sich. „Auf diese Distanz? Ihr müsstet ein komplettes Meer überqueren!“
   „Lasst das meine Sorge sein.“ Samarus wendet sich wieder in Richtung des Versammlungstisches. „Und? Seit ihr bereit den Krieg zu beenden?“

Müde sitzt Reth am Treppenrand des Exerzierplatzes und beobachtet mit blutunterlaufenden Augen die Vorbereitungen der Magier.
   Ich hätte nicht gedacht Jemand könnte den Großmarshall überreden. Aber dieser Dev hat es geschafft. In nicht einmal einem Glockenschlag werden alle Truppenverbände sich hier auf den Platz versammeln und wir beginnen den Angriff. Alle werden hier sein, hoffentlich auch Toris. Den Sammelbefehl muss er bekommen haben, egal wo er ist.
   Um sich von sorgenvollen Gedanken abzulenken, verfolgt er gespannt wie Samarus Dev jeden einzelnen Magier nach und nach diese Runen auf den Körper zeichnet.
   Sieht ziemlich schmerzhaft aus diese Methode. Einer ist sogar bereits ohnmächtig geworden, aber das ist wohl der Preis für eine fast unendliche Energieversorgung. Aber im Gegensatz zu Dev, bekommt jeder nur eine Rune. Vermutlich weil sie es nicht aushalten würden. Wie er das wohl geschafft hat? Immerhin ist sein gesamter Körper mit ihnen überzogen. Ah, das war der letzte.
   Einige der Magier versammeln sich. Nach ihren Roben zu urteilen drei Hohemagier und sieben normale. Unter ihnen auch Hohemagier Aros. Er blickt kurz in Richtung Samarus, der nur einmal schnell mit der Hand winkt und sich dann in Schatten auflöst. Aros wendet sich wieder den anderen Mitgliedern des Zirkels zu und als wären sie eine Einheit beginnen sie sich zeitgleich zu bewegen. Ihre Köpfe sacken nach vorne während beide Arme nach vorne gerichtet werden. Es wirkt fast so, als ob sie sich nach vorne gegen eine unsichtbare Wand stemmen würden. Fasziniert beobachtet Reth wie sich nach und nach in der Mitte des Magierkreises ein Riss bildet. Langsam aber sich kann er die andere Seite erkennen. Samarus steht auf der anderen Seite und macht fast dieselbe Geste wie die Magier auf dieser Seite. Allerdings benötigt er nur eine Hand. Um seiner finsteren Gestalt herum bildet sich nach und nach Eis und Fels heraus. Keine Minute später hat sich der Riss zu einem knapp achtzig Fuß breiten Portal entwickelt.
   Es ist offen!

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