Freitag, 26. April 2013

Konzert 02 Der betrunkene Rabe


Kurz blickt Mark auf die Digitalanzeige, während er in die Straße von Beas Familie fährt.
   „Zehn nach Fünf“, murmelt er. „Gut, hoffentlich ist sie schon halbwegs fertig. Laut Georg brauch sie fast immer eine Viertel bis eine halbe Stunde länger. Gut das mein Wagen die Strecke locker in anderthalb Stunden schafft, dann sind wir trotzdem pünktlich zum Einlass da.“ Langsam bremst er ab und lenkt den breiten Wagen auf die Einfahrt.
   Gerade als er aus den Wagen steigt wird die Haustür aufgerissen und Bea stürmt freudig heraus. „Hey, da bist du ja!“, ruft sie zu ihm und läuft ihm entgegen.
   Schnell reimt sich Mark eine Ausrede zusammen: „Sorry, ich stand auf der A45 im Stau.“
   „Oh, wir sollten dann schnell los, oder? Sonst kommen wir noch zu spät.“
   „Das passt schon. Mein Wagen holt das wieder rein“, er zeigt auf seinen Audi.
   Erstaunt sieht sie ihn an. „Wow, das ist deiner?“
   „Klar. Ein Audi A7 Sportback 3.0 TDI quattro S tronic. Zweihundertfünfzig Km/h Spitze und Null auf Hundert in sechs Sekunden“, prahlt er. „Hab ihn mir von meiner Bonuszahlung gekauft … Naja, gebraucht“, ergänzt er kleinlaut.
   „Klasse, mit dem sind wir ja in Windeseile in Koblenz“, freut sie sich und springt auf und ab. Dabei wippt ihr Rock auf und ab, den Mark erst jetzt bemerkt. Ihre gesamte Kleidung scheint ungewohnt. Ihre sonst grauen und weiten Klamotten hat sie gegen ein eng anliegendes T-Shirt mit Bandlogo, einen kurzen schwarzen Minirock und flache Lederstiefel getauscht.
   „Was ist?“, fragt sie ihn verwirrt.
   Erst jetzt bemerkt Mark, dass er sie anstarrt. „Ach nichts. Es ist nur dein Outfit …“
   „Stimmt etwa was damit nicht?“, fragt sie nervös. „Ich wusste nicht genau was ich anziehen sollte. Passt das nicht?“
   „Nein, ich muss jetzt wohl nur gut aufpassen, damit dich keiner antatscht“, antwortet er ihr verlegen.
   Sie braucht einen Moment bis sie das Kompliment versteht, dann aber lächelt sie ihn schüchtern an.
   „So“, er räuspert sich, „dann sollten wir aber los. Sonst kommen wir vielleicht wirklich noch zu spät.“ Er zeigt auf die Beifahrerseite seines Wagens und geht dabei zur Fahrerseite.
   Schnell steigt sie ein und er fährt den Wagen aus der Einfahrt raus. Nur langsam schaffen sie es durch den Stadtverkehr. Kein Wunder, es ist Freitagnachmittag, die Sonne strahlt und es sind knapp fünfundzwanzig Grad. Erst auf der A1 wird es leerer. Sofort drückt Mark das Gaspedal durch und beschleunigt den Wagen.
   Überrascht schreckt Bea auf, aber fängt sich schnell wieder. „Wow, ist der schnell!“, lacht sie.
   Er grinst zur Antwort.

Die Fahrt verläuft schweigend. Man hört nur die Musik von Marks MP3 Sammlung. Er konzentriert sich auf die Straße und Bea sieht aus dem Fenster, bis ihr eine Idee kommt und sie anfängt in ihrer Tasche zu wühlen. Anfangs glaubt er sie hätte ihr Notebook mitgenommen und hat schon innerlich den Kopf geschüttelt, aber dann hört er das Streichen eines Bleistiftes. Im Augenwinkel beobachtet Mark sie beim Zeichnen. Nach einen Moment fragt er sie: „Du zeichnest?“
   Sie blickt von ihrem Zeichenblock auf. „Mhm, ein Bisschen.“
   „Und was zeichnest du gerade?“
   „Dich“, gibt Bea leicht verlegen zu. „Das stört dich doch nicht, oder?“
   „Nein, überhaupt nicht … Machst du das schon lange?“
   „Zeichnen?“, sie überlegt kurz, „Seit knapp vier Jahren glaube.“
   „Oh, das ist ja schon einige Zeit. Ist das mehr ein Hobby für dich oder vielleicht sogar mehr?“, fragt er weiter.
   „Nur ein Hobby“, antwortet sie Mark, wobei sie sich wieder ihrer Zeichnung widmet.
   Das bringt ihn auf einen weiteren Gedanken: „Mir fällt da gerade auf, ich weiß gar nicht was du jetzt machst. Du hast zwar ein Jahr später mit der Schule angefangen, aber du solltest doch jetzt auch schon fertig sein, oder nicht?“
   Sie hält inne und es vergeht ein Augenblick ehe sie ihm antwortet: „Ja, ich bin fertig mit der Schule. Letztes Jahr hab ich meinen Abschluss gemacht.“
   „Realschulabschluss?“
   Bea schüttelt den Kopf. „Nein, Hauptschule. Ich bin einmal sitzen geblieben. Das war in dem Jahr in dem Mama von uns gegangen ist.“
   „Oh, ja. Verstehe.“ Schnell versucht er das Thema zu wechseln: „Und was machst du jetzt?“
   „Nichts so wirklich.“
   „Echt? Wieso das denn?“
   Sie zuckt nur teilnahmslos mit den Schultern und zeichnet weiter.
   „Hast du nichts bekommen oder hast du dich erst gar nicht irgendwo beworben?“
   „Ich hab mich schon beworben“, verteidigt sie sich, „aber keiner wollte mich.“
   „Mh, als was hast du dich denn beworben?“, hackt er nach.
   „Verschiedenes. Georg hat mir ein paar Unternehmen genannt.“
   „Aha, Verschiedenes“, wiederholt Mark. „Na kein Wunder, dass dich keiner eingestellt hat. Hört sich ja auch an als wolltest du unbedingt die Ausbildung machen.“ Als sie darauf nichts erwidert redet er weiter: „Wieso hast du dich denn nicht wo beworben, wo du auch arbeiten willst? Du musst doch einen Traumberuf haben oder nicht?“
   „Schon … aber da würd mich eh keiner einstellen.“
   „Wieso das denn? Was ist denn dein Traumberuf?“
   Während sie aus dem Fenster blickt, antwortet sie ihm: „Konditorin.“
   Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er sie an. „Echt jetzt? Konditorin?“
   Niedergeschlagen antwortet sie ihm: „Siehst du, du glaubst auch nicht, ich könnte das schaffen.“
   „Moment, nein. Das hab ich nicht gemeint. Ich war nur ein wenig überrascht. Du, also, du wirkst nicht wie eine Naschkatze oder so. Wie bist du denn darauf gekommen?“, fragt er Bea.
   „Ich hab Mama früher immer beim Backen geholfen. Sie hat fantastische Törtchen gemacht.“
   Er erinnert sich zurück. „Oja, das stimmt. Die waren echt klasse … Genau, ich erinnere mich wieder: Am besten haben mir ihre Schokoladentorten geschmeckt. In die konnte ich mich echt reinsetzen und irgendwie ist mir gerade so, als hätte ich das auch tatsächlich getan.“
   Sie kichert. „Das hast du wirklich. Du hast danach richtig geheult, weil du die Torte nicht mehr essen durftest und Mama sie weggeschmissen hat.“
   „Oh, stimmt. Ja was sollte das? Die Hose hatte ich doch erst den Tag davor neu angezogen. So dreckig konnte die Torte doch nicht.“
   Sie lacht und er stimmt mit ein.
   Nach einem Moment wird Mark wieder ernster. „Wieso glaubst du denn, du könntest du Ausbildung dafür nicht schaffen?“
   „Georg und Papa haben mir gesagt ich brauch dafür total viel Mathe. Wegen dem Messen der Zutaten und so. Aber ich bin total scheiße in Mathe. Das würd ich nie packen.“
   „Was?“, fragt er erstaunt. „Wegen Mathe gibst du deinen Traumjob auf? Da brauchst du doch nicht viel für. Ein bisschen Prozentrechnen, Dreisatz und Umrechnungen.“
   „Das sagst du so leicht! Du hast doch auch studiert. Du hast was drauf! Aber ich?“, sie schaut wieder aus dem Fenster. „Ich pack das doch nie.“
   „Was für ein Bullshit“, sagt Mark wütend. „Du müsstest dich nur einfach reinhängen und wenn du nicht weiter kommst … dann fragst du halt mich.“
   „Du würdest mir helfen?“, fragt sie erstaunt und dreht sich wieder in seine Richtung.
   „Sicher. Das bisschen Nachhilfe wär doch kein Problem. Du solltest dir wirklich eine Ausbildungsstelle suchen. Du kannst doch nicht ewig Zuhause rumsitzen“, ermahnt er sie.
   „Da hast du vielleicht Recht. Mein Bild ist fertig. Hier schau mal.“ Sie hält ihm den Zeichenblock seitlich hin.
   Wütend über ihren Ablenkungsversuch dreht er sich leicht um und gerade als er sie deswegen anschnauzen will, sieht er das Portrait vor sich. „Wow, sieht das gut aus. Das hast du gerade eben gezeichnet?“
   Verlegen nickt sie. „Gefällt es dir?“
   „Gefallen? Es sieht unglaublich aus. Das schlägt ja jeden Spiegel!“, sagt er begeistert.
   „Danke“, antwortet sie ihm schüchtern.
   „Also wenn das mit der Arbeit als Konditorin nichts wird, könntest du auch damit locker deinen Lebensunterhalt verdienen.“
   „Ach komm, so gut bin ich auch nicht.“
   „Glaubst du etwa ich meine das nicht ernst? Bitte verkauf mir das Bild. Sag mir einen Preis und ich kauf es dir ab.“
   Erstaunt reißt sie die Augen auf. „Was? Nein!“
   „Ach komm. Bitte. Wenn ich das Portrait bei mir aufhänge, fragen mich bestimmt alle woher ich das habe. Bitte verkauf es mir“, bettelt er sie an.
   „Nein ich verkauf es dir nicht … du kriegst es so.“
   „Was?“, fragt er verwirrt. „Ernsthaft?“
   „Ja, ich schenke es dir.“
   „Geil, danke“, freut er sich. „Du bist eine tolle kleine Cousine“, sagt er zu ihr und streichelt ihr den Kopf.
   Ein bisschen beschämt, aber trotzdem noch grinsend murmelt sie darauf ein kleines „Idiot“.

Die beiden verfallen wieder ins Schweigen und hören entspannt der Musik zu.
   „So, hier müssen wir raus“, kündigt Mark an.
   „Sind wir etwa schon da?“
   „Sicher. Schau aus dem Fenster. Wir sind doch schon in Koblenz.“
   „Oh, hab ich gar nicht bemerkt. Der Wagen ist ja wirklich schnell“, murmelt sie erstaunt. „Wo findet das Konzert eigentlich statt?“
   „Stimmt ja. Schau mal ins Handschuhfach. Da sind die Tickets.“
   Während Bea im Handschuhfach herumkramt lenkt Mark den Wagen von der Autobahn runter und steuert ihr gemeinsames Ziel an.
   „CONLOG Arena“, liest sie vor. „Warst du schon einmal dort?“
   „Nein, um ehrlich zu sein war ich bisher noch nicht einmal in Koblenz. Aber mein Navi kennt ja den Weg und das ist alles was zählt. Ah, da ist sie bereits.“
   Vor ihnen taucht zwischen den vielen Bäumen die große Sporthalle auf, ein überdimensionaler Glaskasten am Stadtrand von Koblenz.
   „Wenn es dunkel wird sieht das bestimmt echt klasse aus“, kommentiert Bea.

   Zu seinem eigenen Erstaunen vergehen nur wenige Minuten bis Mark einen Parkplatz gefunden hat und so stehen sie kurz darauf in der umgebauten Halle und blicken auf die noch leere Bühne.
   Mit weiten Augen sieht sich Bea um und beobachtet die vielen anderen Konzertbesucher. Überall um sie herum stehen Männer und Frauen zwischen fünfzehn und fünfzig. Einzig und allein die Farbe schwarz scheint sie zu vereinen … und natürlich die Liebe zur Musik. „So viele Leute und dabei war doch gerade erst Einlass. Was glaubst du wie viele es insgesamt werden?“, fragt sie ihn.
   Er sieht sich auch um. „Keine Ahnung, vielleicht ein paar Tausend“, erwidert er achselzuckend. „Du warst wohl noch nie auf einem größeren Konzert, oder?“
   „Ich war noch nie auf einem Konzert.“
   „Echt? Na dann, willkommen auf deinem ersten Konzert deines Lebens! Wart kurz, da müssen wir doch anstoßen.“ Er sieht sich um und als er eine größere Menschenmenge am Rand der Halle entdeckt sagt er: „Ah, dahinten wird es wohl was geben. Komm.“
   Er hatte Recht und so stehen sich beide wenige Minuten später, sie mit einem Bier, er mit einer Cola in der Hand, gegenüber.
   Ein wenig verdutzt fragt Bea: „Du trinkst nichts?“
   „Ne, muss doch noch fahren.“
   „Ach das stört mich nicht. Ein Bier am Anfang des Abends macht doch wirklich nichts.“
   „Ne lass mal“, er räuspert sich, „Auf einen fantastischen Abend“, prostet er ihr zu und sie stimmt mit ein. Nach einem kräftigten Schluck sagt Mark: „Wollen wir bis es losgeht mal raus wo es ruhiger ist?“
   „Sollten wir uns nicht einen Platz sichern oder so?“, fragt Bea nach.
   „Nein, zuerst kommen eh noch zwei Vorbands. Da ist noch genug Zeit um sich nach vorne zu mogeln“, grinst er sie an.

Draußen angekommen streckt sich Mark erstmal, während ihm die warme Junisonne ins Gesicht scheint. „Ah“, haucht er, „fantastisches Wetter.“
   „Ja … Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass du auf diese Art von Musik stehst? Also nicht, dass du mich irgendwie falsch verstehst, ich find sie ja auch klasse. Aber wenn man dich so sieht, würd man eher auf einen anderen Musikgeschmack tippen.“
   Mark sieht an sich herunter. Ein weiß-graues Hemd, eine edle Jeans und dazu maßgefertigte Lederschuhe von seinem Schuster. Dazu der Borstenschnitt seines blonden Haares. „Wieso? Auf welche Musik sollte ich denn deiner Meinung nach stehen?“
   Sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Aber du wirkst irgendwie wie einer von denen, die früher total beliebt in der Schule waren und dem Mainstream gefolgt sind.“
   Mit hochgezogenen Augen betrachtet er sie. „Tatsächlich? Dabei war ich schon immer ein ziemlicher Außenseiter.“
   Jetzt sieht sie ihn erstaunt an. „Wirklich?“
   „Joa, hatte nie wirklich was mit meinen Mitschülern zu tun und auch nicht mit meinem Kommilitonen … Selbst heute pflege ich eher oberflächliche Beziehungen. Keine Ahnung warum. Ich weiß irgendwie nie was ich sagen soll und reagiere wohl häufig abweisend.“ Betrübt sieht er weg.
   „Und ich dachte immer, du würdest dich für etwas bessere halten …“, murmelt Bea zu sich selbst. Wieder lauter sagt sie: „Mach dir nichts draus. Selbst wenn dich Leute für ein wenig arrogant halt, du hast schließlich auch was dafür geleistet.“
   „Findest du?“
   „Jap!“, sie nickt lächelnd.
   „Mh.“ Es wird ihm ein wenig peinlich und so versucht er schnell abzulenken: „Weißt du, früher war ich sogar ein totaler Death Metal-Fan.“
   Jetzt klappt ihr fast die Kinnlade herunter. „Nicht dein ernst!“
   „Doch ist es.“ Er erinnert sich zurück: „Das war kurz nachdem mich meine Freundin verlassen hatte. Gott war ich damals traurig und wütend.“ Er schüttelt den Kopf. „Naja, auf jeden Fall hab ich mich dann irgendwann wieder gefangen und wohl eher einen gemäßigteren Geschmack entwickelt. So bin ich dann beim Rock, Folk und Metal hängen geblieben“, erläutert er ihr. „Und? Wie bist du auf diese Musik gekommen?“
   „Sagt dir der Song Blutrot von L'Âme Immortelle etwas?“, fragt sie, während sie die Vögel in den Bäumen beobachtet.
   „Ja“, antwortet er ihr kurz angebunden. Ein Lied über Selbstverletzung?
   „Dieser Song hat mich irgendwie gefesselt und so bin ich von einer Band zur anderen Band gekommen“, erklärt sie ihm.
   Ehe Mark genauer nachfragen kann erschallt lauter Applaus aus der Halle.
   „Oh, es beginnt!“, ruft Bea und zieht Mark hinter sich her. Während sie vor ihm läuft betrachtet er unauffällig ihre weißen Oberarme: Nichts.

Das Opening übernimmt Mr. Irish Bastard und was für ein Opening das ist. Die gesamte Menge springt und jubelt mit der belebenden Musik dieser Jungs und dem Mädel.
   Leicht verwundert beobachtet Mark wie Bea neben ihm ausgelassen auf und ab springt und dabei fast ihr Bier verschüttet. So ausgelassen und glücklich hat er sie noch nie gesehen. Selbst als ihre Mutter noch lebte war sie immer ein wenig zurückhaltender als die anderen. Aber hier in der Menge? Freudig schunkelt sie mit, als der Song ‚Fuck you, im drunk‘ erklingt.
   Sie spielen knapp fünfundvierzig Minuten ehe die nächste Band die Bühne betritt.
   Bea fällt die Kinnlade herunter. „Ist das Rabenschrey?“, brüllt sie Mark ins Ohr. Ehe er antworten kann beantwortet sie selbst ihre Frage, nachdem sie den ersten Song wiedererkannt hat: „Das sind sie!“
   Nachdem er endlich seine Cola beendet hat, mischt auch Mark kräftig mit. Er brüllt und lacht zusammen mit Bea und der Menge. Nach dem letzten Song sind beide erst einmal durchgeschwitzt, aber glücklich.
   „Das war fantastisch!“, lacht Bea ihn an.
   „Warts erst ab bis In Extremo anfängt. Ich war letztes Jahr schon auf ein Konzert von denen. Besser geht’s nicht!“

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